Nein sagen lernen und gesunde Grenzen setzen

Ob die Anfrage zur Unterstützung als Umzugshelfer, die spontane Einladung zum Grillabend oder die Urlaubsvertretung für einen Kollegen trotz übervollem Schreibtisch: Die eigenen Grenzen zu erkennen und zu kommunizieren, fällt vielen Menschen schwer. Dabei profitieren von persönlicher Klarheit alle Beteiligten. Sich der eigenen Grenzen bewusst zu sein und diese im Sinne der Selbstfürsorge zu achten ist die Grundlage, um langfristig in Balance zu bleiben.

 

Hand aufs Herz: Was verleitet dich zum Ja sagen?

 

Dass Menschen gerne Helfer, Retter und Ratgeber sind, hat die unterschiedlichsten Beweggründe. Spür mal bei den folgenden Fragestellungen ehrlich in dich hinein, was dich häufig zum Ja sagen verleitet: Vielleicht fühlst du dich geschmeichelt, dass jemand dich um Hilfe bittet? Oder du magst das Gefühl, gebraucht zu werden? Möglicherweise hast du Angst, dass es die Beziehung zu deinem Gegenüber belastet oder gar zu Konflikten kommt? Oder du fürchtest noch ernstere Konsequenzen, vor allem wenn du beispielsweise die Bitte deiner Vorgesetzen ablehnst? Wenn es dir besonders schwerfällt, bei geselligen Aktivitäten abzusagen, könnte es auch sein, dass du Sorge hast, etwas zu verpassen (auch FOMO - "Fear of missing out" genannt)? Gut möglich, dass dir noch ganz andere Beweggründe in den Sinn kommen bzw. sich diese je nach Person und Situation unterscheiden. Diese Hintergründe für ein häufig zu schnelles bzw. zu häufiges "Ja" schrittweise zu ergründen ist eine wichtige Grundlage, um dich besser zu verstehen und auch eine langfristige Verhaltensänderung umzusetzen.

 

Weshalb Grenzen erkennen und wahren wichtig ist

 

Wer dauerhaft an bzw. über die eigenen Grenzen geht oder Grenzübertritte zulässt, riskiert seine physische und psychische Gesundheit. Wir fühlen wir uns früher oder später erschöpft – körperlich und seelisch. Grenzen setzen können heißt, achtsam mit sich selbst umzugehen.

 

Dazu gehört eine offene Kommunikation – mit uns selbst und auch anderen gegenüber. Die Fähigkeit, eigene Grenzen zu kennen und klar zu äußern, beruht auf einem gesunden Selbstwertgefühl. Knüpfen wir unseren Selbstwert (zu) stark an eine Bestätigung von anderen, ordnen wir uns eher unter, statt Grenzen zu setzen – aus Angst vor Ablehnung und Konflikten.

 

Studie zeigt: Angst vor negativen sozialen Folgen eines Neins ist überzogen

 

 

Hier kannst du übrigens etwas beruhigt sein, denn: Eine Pilotstudie der West Virginia University in Zusammenarbeit mit New York Institute of Technology mit über 2.000 Proband*innen zeigt, dass unsere Ängste vor negativen sozialen Folgen bei einem "Nein" häufig überzogen sind. Konkret ging es in besagtem Experiment darum, die Einladung eines Freundes zu einem gemeinsamen Museumsbesuch auszuschlagen. In dieser - wie auch in anderen Versuchsreihen - war das Ergebnis, dass die eingeladenen Versuchspersonen die negativen Auswirkungen ihrer Absage deutlich schlimmer einschätzten als diejenigen Personen, die sich vorstellten, die Absage zu erhalten. Die Forscher*innen kamen unter anderem zu dem Fazit, dass wir häufig unsere Wichtigkeit und unseren Einfluss auf das Wohl anderer Menschen überbewerten. Gleichzeitig seien wir zu stark auf den Akt des Neinsagens fokussiert und fürchteten zu sehr, anderen damit zu schaden.

 

In 5 Schritten eigene Grenzen wahrnehmen und setzen 

 

Doch wie geht das mit dem Nein sagen überhaupt? Keine Sorge: Du musst nicht von heute auf morgen dein Leben komplett umkrempeln. Überhaupt müssen wir weniger "müssen". Auf dem Weg zum entspannten, gesunden Grenzen setzen helfen dir sicherlich die folgenden fünf Schritte: 

 

  1. Automatische Reflexe (vorerst) stoppen: Ein zentraler Schritt ist, nicht (immer) sofort zuzusagen. Beobachte Situationen, in denen du vorschnell „Ja“ sagen willst. Erbitte dir dann etwas Bedenkzeit bei deinem Gegenüber. 
  2. Achtsam wahrnehmen: Welche Gedanken (z.B. mögliche Konsequenzen), Gefühle (z.B. Schuld, Angst…) und Körpersignale (z.B. enge, innere Unruhe) bemerkst du?
  3. Abgleich mit der Realität: Hier ist es hilfreich, wenn du für dich einige wichtige Fragen klärst, wie z.B.: Um welche Angelegenheit geht es konkret? Wer ist die Person bzw. welchen Stellenwert hat diese in Deinem Leben? Mit wieviel Zeitaufwand ist ein „Ja“ verbunden? Welche Dinge / Personen / eigene Bedürfnisse bleiben durch ein Ja „auf der Strecke“? Wie steht es um deine Kapazitäten und Kenntnisse? Was hast du und haben auch andere von einem „Nein“?
  4. Eigene Erlaubnis einräumen: Verinnerliche dir, dass jeder Mensch ein Recht auf Selbstbehauptung und Grenzen setzen hat. Das hat nichts mit Egoismus, sondern vielmehr mit gesundem Selbstschutz zu tun. Was würdest du einem lieben Menschen sagen, wenn er sich in einer solchen Situation befinden würde? Was könntest du entsprechend zu dir selbst sagen, um dir die Erlaubnis zum Grenzen setzen und Nein sagen zu geben?
  5. Grenzen (schrittweise) kommunizieren: Fange im Kleinen an. Übe bei Menschen oder Themen Grenzen zu setzen bzw. Nein zu sagen, bei denen es dir leicht(er) fällt. Oder übe zunächst vor dem Spiegel. Haltung, Mimik und Gestik spielen eine entscheidende Rolle. Und gerade bei neuen Verhaltensweisen braucht es zudem etwas Übung und Geduld.

Klares "Nein" statt schnelles "Ja" mit INGA

 

Und wie geht das dann konkret mit dem Neinsagen? Wie du es schaffst, klar und trotzdem beziehungsschonend Nein zu sagen - dafür gibt es ein bewährtes Prinzip. Es nennt sich INGA. Dahinter steht jedoch keine Person, sondern ein Akronym, das sich wie folgt aufschlüsselt:

 

I = Interesse signalisieren – Wenn jemand mit einem Anliegen auf dich zukommt, dann höre genau zu, was dein Gegenüber von dir möchte. Angenommen deine Kollegin braucht dringend deine Unterstützung, weil sie momentan zu viele Aufgaben und obendrein ein krankes Kind zuhause hat. An dieser Stelle kannst du auch durchaus Rückfragen stellen, beispielsweise was die Bitte bzw. Aufgabe, die du ihr abnehmen sollst, genau beinhaltet. So kannst du zugleich besser abschätzen, ob ein Ja oder ein Nein angebracht ist (siehe Schritt 3 oben). Anschließend kannst du auch wie in Schritt 1 vorgeschlagen, um Bedenkzeit bitten ("Lass mich bitte kurz in die Mails schauen, was bei mir heute alles ansteht - ich melde mich in einer Viertelstunde bei dir.") Wenn du möchtest, kannst du auch durchaus Verständnis für das Anliegen / die Situation deines Gegenübers ausdrücken, z.B.: "Ich kann gut nachvollziehen, dass das im Moment viel bei dir ist - zumal mit krankem Kind zuhause."

 

N = Nein sagen – Wichtig: Wenn du Nein meinst, dann sag auch "Nein". Lange Beschwichtigungen und Entschuldigungen oder schwammige Formulierungen (z.B. "Eigentlich hab ich selbst viel zu tun...") sind zwar gut gemeint, weil wir damit unser Gegenüber nicht verletzen wollen. Aber sie untergraben unsere Souveränität und dadurch unseren Entschluss. Was du dennoch tun kannst - sofern du das ehrlich meinst: Dein Bedauern ausdrücken. Das nimmt deinem Nein die gefühlte (und von dir vielleicht gefürchtete) Härte bzw. Schärfe. Im oben genannten Beispiel könntest du an den letzten Satz anknüpfen und sagen: "Ich hätte dich in deiner Situation gerne unterstützt und trotzdem lautet meine Antwort: Nein - ich kann die Aufgabe nicht übernehmen."

 

G = Grund nennen – Die oben genannte Pilotstudie hat unter anderem auch belegt, dass unser Gegenüber ein "Nein" leichter schlucken kann, wenn wir einen Grund nennen. Das heißt keinesfalls, dass du dich für dein Nein lange rechtfertigen musst oder sollst! Durch eine Begründung kann dein Gegenüber dich besser "greifen". Halte es dennoch kurz und klar. Wenn wir bei dem bisherigen Beispiel bleiben, könntest du als Begründung nennen: "Ich muss heute selbst noch eine wichtige Aufgabe abschließen, die ich nicht schieben kann." 
Job-Tipp: Gerade bei Vorgesetzten hilft es, ein Nein zu begründen, um mögliche Folgen bzw. Abhängigkeiten zu verdeutlichen. "Wenn ich diese Aufgabe B heute noch erledigen soll, bedeutet es, dass Projekt A liegen bleibt und ich dadurch die Frist nicht einhalten kann." 

Spezial-Tipp: Bei Bitten / Anfragen, bei denen du ein schlechtes Gefühl hast oder die sich nicht mit deinen Werten decken (z.B. jemandem Geld zu leihen oder für jemanden zu flunkern) kannst du auch damit argumentieren, dass du das "grundsätzlich" nicht machst. "Ich verleihe grundsätzlich kein Geld." / "Ich flunkere grundsätzlich nicht." Das reicht als Begründung. Und: Nicht umsonst gibt es den wundervollen Spruch "Nein ist ein ganzer Satz." Das heißt, es gibt auch durchaus Situationen und Menschen, bei denen du dir diesen Schritt getrost sparen kannst. Und ggf. auch den nächsten.

 

A = Alternativen nennen – Dieser abschließende Teil lenkt deine Absage dennoch in eine konstruktive, positive Richtung. Du könntest deinem Gegenüber beispielsweise Ideen mit auf den Weg geben, wie sie oder er die Aufgabe alleine bewältigen kann. Oder sich anderweitig Unterstützung holen kann. Oder ein späteres Entgegenkommen von dir signalisieren. Nochmals auf unser Beispiel bezogen, könntest du sagen: "Frag mal bei Katja an - ich habe gehört, dass bei ihr heute überraschend eine Aufgabe weggefallen ist." Oder: "Was ich dir anbieten kann ist, dass wir uns morgen Früh für eine halbe Stunde zusammensetzen und gemeinsam überlegen, wie du hier weiter kommst." Oder: "Wenn es morgen noch reicht, kann ich mir im Laufe des Vormittags eine Stunde dafür freischaufeln." Dieser letzte Schritt der INGA-Methode ist eine Entlastung für alle "People Pleaser", denn damit signalisierst du, dass du grundsätzlich hilfsbereit und kollegial bist - es diesmal jedoch nicht geht. Vielleicht erleichtert dir das dein Vorhaben, zukünftig öfter für dich einzustehen und im Sinne deiner Selbstfürsorge Nein zu sagen.

 

Mir persönlich haben beim Neinsagen lernen die folgenden beiden Sätze unterstützt, die ich dir abschließend noch ans Herz legen möchte: "Ein Nein zu dir ist ein Ja zu mir." Und: "Lerne 'Nein' zu sagen. Erst dann werden andere dein 'Ja' schätzen."

Kommentar schreiben

Kommentare: 1
  • #1

    Barbara (Sonntag, 29 September 2024 13:11)

    Vielen Dank für die wertvollen Impulse - sehr schön einfühlsam und dabei prägnant und auf den Punkt gebracht. Sie ermutigen mich, sie noch konsequenter in meinen Alltag einzubauen.